Szofia

 

Sie lebte für den schmalen Streifen Stille wenn die Musik verklang.

Mitten in Budapest, im Keller der ungarischen Staatsoper, mit all ihren Lichtern, Kronleuchtern und Teppichen, die vornehme Menschen mit gedämpften Schritten zu ihren Logenplätzen begleiteten, war es dunkel.

Nur fahle Lichtstreifen, an Wände geworfene Auswegschilder, für Auswege, die es nicht gab, durchbrachen die Kellerschwärze.

Szofia schloss meistens die Augen. Zu sehen gab es hier unten nichts. Ihre Haut klebte von Schweiß und vom Staub der Sommerstraßen, von Lügen und Gaunereien der Taschendiebe und Trickbetrüger. Sie klebte von Davids und Lazlos Schlägen.

Szofia wartete. Sie wusste nichts von Komponisten, hatte nie Oper oder Operette gesehen. Kannte weder Hamlet noch Anna Netrebko. Sie hockte nur jeden Abend unter dem Lüftungsgitter zum Logenaufgang. Blinzelte durch schmale Schlitze, roch Düfte aus kleinen Flacons wie sie in der Andrassy utca verkauft wurden, satt und schwer. Sie sah Strasssteine auf hochhackigen Schuhen blitzen.

Szofia war barfuß.

Es wurde still. Verschlungen von dem prachtvollen Bau, einem fremden Wesen, saß sie tief unten in seinem Walfischinneren, vernahm nur noch leises Raunen. Dann kam der Applaus. Szofia hielt sich die Ohren zu.

Ellbogen auf die Knie gestützt, Kinn zur Brust, Zähne fest aufeinandergebissen. Klatschen, Schläge, Haut auf Haut.

Dann endlich: das A der ersten Oboe, das Ende des lähmenden Lärms, verheißendes Flüstern, tastend suchend und sicher zugleich.

Szofia gab ihre Ohren frei, legte den Schmutz ab wie zu enge Kleidung, den zerbrechlichen Körper auf kalten Steinboden.

Mal kam ihr die Musik zu mächtig vor, saß schwer auf ihrer Brust.

Dann wieder zogen Töne wie Zirruswolken durch das Lüftungsgitter, Melodien umschmeichelten ihr Haar, wehten Violinengesänge und Klarinettenzauber herunter, ließen sich einatmen, hoben Szofia empor bis sie meinte die Schwärze des Budepester Himmels zu sehen, die Lichter der Ausflugsschiffe auf der Donau, die die Stadt in Buda und Pest teilte, das warme Leuchten der Fischerbastei bei Nacht.

Dann wurde Szofia leicht. Spürte weder Stein, noch Dunkelheit oder Kälte. Vergaß David und Laszlo. Schwebte. Wenn die Musik verklang, sie vom letzten Ton, der nur leise „Flieg!“ flüsterte, gehalten wurde wie eine Taube von bergender Hand. Wenn der Kokon sich langsam öffnete, dann breitete Szofia Flügel aus, glitt durch die leise Einsamkeit, malte stumme Melodien mit den ihr eigenen Farben, die ihr soeben geschenkt worden waren. Sie war Szofia. Sie lebte. Szofia, die lebte für den schmalen Streifen Stille wenn die Musik verklang.

 

 

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