Ins Freie

 

Das Haus hatte viele Räume. Eva kannte die meisten aber lange nicht alle. Manche kamen ihr täglich neu vor, als hätte jemand nachts umgeräumt. Bilder von den Wänden genommen, alte Vitrinen mit modernem Porzellan gefüllt, dass angestarrt werden wollte wie Flamingos im Zoo. Es gab Räume, überfüllt und mit federnd dicken Teppichen ausgelegt, die über Nacht mit stumpfem PVC voller Putzschlieren ausgestattet wurden.

Eva stand bewegungslos und still in dem weißlackierten Türrahmen. Den Moment des Eintritts hinauszögernd, ließ sie den Raum wirken, bevor sie noch einmal kurz die Augen schloss und dann erst mit dem rechten, dann mit dem linken Fuß die Schwelle überschritt.

Seit langem kam sie täglich hierher. Dieser eine war ihr Lieblingsraum geworden und sie hätte nicht einmal sagen können, warum. Auch heute lag sie eine Weile auf dem Sofa, welches einsam und mittig auf dem dunklen Holzboden stand, der so alt zu sein schien, dass er glänzte wie poliert von unzähligen Filzhausschuhen. Von dem Sitzmöbel, das sich wuchtig in die Einsamkeit erhob, mit seinem schwerem dunkelroten Leder, dicken Knöpfen in Sitzfläche und Rückenlehne, die ihm das Aussehen eines riesigen Reptils, oder eines Gürteltiers verliehen, hatte man Blick auf die mächtige Kastanie im Innenhof.

Die Aussicht durch die bodentiefen Fenster wurde gebrochen, durch weiße Sprossen, die das Glas in Quadrate teilten und Evas Gedanken in eine eben solche Ordnung drängten. Während sie die schweren Äste betrachtete, war ihr, als berge das Zimmer das Geheimnis ihrer selbst, von dem sie nicht mehr besaß als eine Ahnung, wie eine Margarite vielleicht vor ihrer ersten Blüte.

Manchmal lag Eva, wie eins geworden mit dem Schutzpanzer des Gürteltiers oben auf, manchmal schlug sie die Beine auf seinem Rücken hockend unter oder übereinander und manchmal sah sie dabei aus, als triumphiere sie nach erfolgreicher Jagd.

Der Sommer verging. Eva sah Blätter und Kastanien mitsamt ihrem stacheligen Kokon fallen.

Als es Winter wurde, spürte sie, dass der Raum weder beheizbar war, noch sonst irgendwie für ihre Bedürfnisse sorgen konnte. Nicht mal eine Decke gab es, die sie über ihre Beine hätte legen können. Sie versuchte eine mitzubringen, wie ein Geschenk für sich und den kühlen Lebensquader. Doch bereits einen Schritt hinter der Schwelle stellte sie fest, dass das zusammengerollte Etwas aus ihren Armen verschwunden war. So nahm sie mit dem Vorlieb was sie fand. Und das war nicht viel. Um ehrlich zu sein erschreckend wenig. Um genau zu sein, fehlte jegliche Form von Grundausstattung in dem Zimmer, welches -so fürchtete sie allmählich- doch nicht mehr war, als der Käfig eines Gürteltiers.

Irgenwann...vielleicht war ihr kalt und sie träumte von einem Kaminfeuer, das ihren Rücken wärmte, von Schneeflocken, die wie Gänsedaunen gleich, am Fenster hinüberschwebten, bemerkte sie, dass sie den Raum füllen konnte. Und zwar alleine mit ihrer Stimme und den Worten die über ihre Lippen kamen. Sie klangen wunderbar wider, wenn sie Gedichte rezitierte, Reime sprach oder sich Geschichten ausdachte und sie zeitgleich mit den Gedanken freiließ. Je lauter und deutlicher sie sprach, desto strahlender kam der Klang zu ihr zurück. Sie lag barfuß auf dem Sofa, hörte die Farben Ihrer Stimme, die sie in das fahle Grau eines kalten Raumes gesprochen hatte. Und innerhalb der vier Wände entstand etwas seltsam Wärmendes.

Mit jedem Klang, jeder warmen Woge die Eva erschütterte, versteckte sich die Zimmertüre eben noch deutlich sichtbar, nun wie hinter zarter Gaze um schließlich vollends zu verschwinden. Eva bemerkte es nicht.

Vielleicht war es der Beginn des Frühlings, der, gerade als sie die leere Wand zu ihrer Rechten betrachtete, den Stuck, den sie mit einem Gedicht, unter die Decke gezaubert hatte, eine Messingklinke erkennen ließ und -wenn man genau hinsah- ein weißes Türblatt, das beinahe völlig mit der Wand verschmolz.

Und vielleicht erinnerte die Kastanie sie daran, dass es ein Draußen gab, dass Vögel hopsend durch die Äste, die je nach Windrichtung sogar an die Scheiben kratzten, dass diese Vögel Töne von sich gaben, Laute, die Eva kaum mehr gekannt hatte. Sie erinnerte sich an ein „Jenseits der Wände“, an die Schönheit des Gegenübers, an Heimat im Fremden.

Und als sie eine Ahnung beschlich von Wind der durch Wiesen und um Hausecken strich, ihr Haar in fremde Richtungen rüttelte, betrachtete sie verwundert und verwirrt jene Türklinke, die Einladung, nicht zu verharren auf einem dunkelroten und überaus toten Lederreptil.

Eva dachte darüber nach, dass manche Räume möglicherweise nicht zum Bleiben bestimmt waren.

In dem Moment als sie die zierliche Klinke hinunterdrückte, meinte sie durchs Schlüsselloch bereits Frühlingshauch wahrzunehmen, den Duft junger Triebe die prall aus satter Erde sprossen.

Und mit dem Öffnen der Türe verschwand hinter Eva ein Raum aus grauer Farblosigkeit. Das letzte Taubenblau, ebenso wie das letzte warme Mohnrot stahlen sich mit ihr durch den Türspalt davon.

Ins Freie.

 

 

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