Nina Mulligan

 

Sie stand jeden Vormittag dort. Wartend vielleicht. Mit verschränkten Armen auf der Stufe vor dem Hintereingang ihres Hauses. Sie stand immer dort wenn Joey gegen elf die Post brachte, mit dem Arm über den verwitterten Zaun langte und die Briefe – oder manchmal nur Werbeprospekte vom Supermarkt – in den grün lackierten Kasten legte.

Es war einer von diesen Postkästen mit Deckel drauf, damit man die Briefe, oder was auch immer drin lag, leichter entnehmen konnte.

Die meisten Deckel, auf die Joey stieß waren abgeschlossen. Der von Nina Mulligan nicht.

Einmal hatte Joey sie angelächelt und geglaubt, sie hätte ihn bemerkt. Doch dann hatte sie nur in die Jackentasche gegriffen um eine Schachtel Zigaretten herauszuziehen. Gezittert hatte sie. Obwohl vielleicht sechs oder sieben Meter zwischen ihnen gelegen hatten war ihm gewesen, als hätte er das Vibrieren der feinen Häärchen auf ihren Unterarmen spüren können.

Joey sortierte sechsmal in der Woche Briefe in seine Ledertasche, die er anschließend schwungvoll in das Gestell am Lenker des Fahrrads hob.

Ninas Briefe kamen fast zum Schluß. Das war Absicht. Er hatte die Route durch die Stadt so aufgeteilt, dass die Brannigan Road den Höhepunkt darstellte, seinen persönlichen Höhepunkt.

 

Manchmal fragte er sich, worauf Nina Mulligan wartete oder ob sie es tatsächlich und überhaupt tat. Er stellte sich vor, wie es drinnen bei ihr aussah, ob sie vielleicht einen versoffenen Mann im Unterhemd auf dem Sofa liegen hatte. Aber die meiste Zeit wünschte Joey sich nur, sie möge ihn ansehen, wie sie so dastand mit kinnlangem Haar, dass sich an den Spitzen leicht nach außen bog. Einmal war ein Windstoß gekommen. Genau gegen elf, genau als Joey den Arm über den Zaun gestreckt und dabei zum Hintereingang gesehen hatte. Das Haar war ihr aus dem Gesicht geweht worden und Joey hatte zum ersten mal die traurigen Züge um ihre Augen gesehen, die tiefe Falte zwischen den Brauen. Für einen Moment hatte er gezögert und überlegt, ob er heute die Post persönlich abgeben sollte. Aber der Moment war mit dem Windstoß an ihm und Nina Mulligan vorübergeweht.

 

Jeden Tag schaute er genau nach, ob es kein Einschreiben war, was er zu überbringen hatte. Er hatte tatsächlich überlegt ihr selber eines zu schicken. Aber was hätte er schreiben sollen? Er kannte ja doch nicht mehr als ihren Namen und ihre Haarspitzen, die sich an nebligen Tagen ganz besonders nach außen bogen.

Es stand immer nur ihr Name auf der Post. Das machte ihm Hoffnung. Ließ ihn glauben, dass - egal wer vielleicht drinnen auf dem Sofa lag – es jedenfalls niemand sein konnte, der Nina Mulligan glücklich machte.

Joey stellte sich vor, wie Nina in einem weißen Kleid mit Schleier aussehen würde. Er sah sich, wie er in einem dunklen Anzug neben sie trat und lächelte. Oder in einem weißen. Das hatte er mal im Fernsehen gesehen, nachmittags als er Granny im Heim besucht hatte. Dort lief immer der Fernseher mit allen möglichen Sendungen, wobei er glaubte, dass es egal war, was lief. Soweit es Granny betraf, konnte sie sich sowieso an nichts mehr erinnern sobald die Show vorbei war. An guten Tagen erkannte sie ihren Enkel. Schlimm waren diejenigen, an denen Joey erklären musste, wer er war. Das war ihm unheimlich und er dachte darüber nach, dass irgendjemand kommen könnte um irgendeine Geschichte darüber zu erzählen, wer er war und was er wollte. Und plötzlich würde Granny diesen jemand in die Arme nehmen und sich erinnern obwohl sie sich an nichts erinnerte.

Einmal hatte Granny ihn gefragt, ob er verheiratet sei. Da hatte er ihr eine Geschichte erzählt von seiner Zukünftigen die Nina hieß und das schönste Mädchen der Stadt sei und dass er sie beim jährlichen Tanzwettbewerb kennengelernt hatte und sie nur mit ihm hatte tanzen wollen. Die Geschichte mit der wartenden Frau vor dem Hintereingang eines Hauses in der Brannigan Road, an welchem die Farbe vom Fassadenholz blätterte und graue trostlose Flecken hinterließ, war ihm unangenehm gewesen. Granny hatte gefragt, wann er sie denn mal mitbringen würde, seine Nina. Zum Glück hatte sie bei seinem nächsten Besuch alles vergessen gehabt. Wenn sie noch einmal fragte, würde er sowieso etwas anderes erzählen. Er ging nämlich schon seit Jahren nicht mehr zum Tanzwettbewerb. Um genau zu sein war er vor vier Jahren zum letzten Mal da gewesen, als Charlotte Wellensteyn bei seiner Aufforderung zum Tanz laut aufgelacht und gerufen hatte, dass selbst wenn er der letzte Mann auf Erden wäre, sie niemals mit ihm auch nur zu einem einzigen Foxtrott bereit wäre. Nach einem Moment des Schreckens, dem Bemerken der vielen Augenpaare all derer, die sich plötzlich seiner Anwesenheit bewusst geworden waren, war er hinausgerannt. Runter zur Flussbiegung. Dort blieb er sitzen auf einem runden Fels, der halb ins Wasser ragte und gegen den Jock Miller die Katzenjungen schleuderte, die ungewollt in seiner Scheune geboren wurden. Dort saß er, bis der Morgennebel über die Wiesen kroch. Dann ging er nach Hause.

Das war vor vier Jahren gewesen. Jetzt hatte er Nina Mulligan, die unglaublich elegant die Arme untereinanderschlagen konnte, deren Haarspitzen bei jeder Bewegung auf und ab wippten. Das war Nina.

Winter war in der Nacht über die Stadt hergefallen und hatte mit einem Atemzug alle Blätter gleichzeitig von den Bäumen gerissen. Joey zog die Mütze tiefer ins Gesicht, den Schal ein wenig enger um den Hals bevor er den Hügel hinab zur Brannigen Road bremste anstatt zu strampeln. Die Straße führte vorbei an der schäbigen Papierfabrik, die seit Jahren zum Verkauf stand, vorbei an den Schildern die schon auf den nächsten Ort verwiesen, als gehörten jene Straßenzüge zum Nirgendwo. Doch Joey lächelte. Joey hatte einen Plan. In seiner Tasche steckte ein Brief. Selbstgeschrieben. Das Papier hatte er in Tildas Schreibwarengeschäft gekauft. Oben in der rechten Ecke war auf jedem Bogen eine Rose gedruckt. Das hatte er für angemessen gehalten. Schließlich hatte er Wichtiges zu sagen.

Seine Nase und die Fingerspitzen waren fast taub vor Kälte. Er hatte nicht bemerkt, dass sie aufgehört hatten zu brennen. Er bremste scharf, bevor er in die Brannigan Road einbog, warf einen kurzen Blick auf den mageren Hund, der den Schrottplatz vom alten Jackson bewachte und der nach all den Jahren immer noch keinen Namen hatte. Nina Mulligans Gartenzaun kam ihm heute höher vor als sonst als er sein Rad an ihm vorbei zum Briefkasten schob.

 

Der Winter war über die Stadt hergefallen als Joey „unbekannt verzogen“ auf einen Brief an Nina Mulligan stempelte, sich dabei rote Stempelfarbenflecken auf die Fingerspitzen machte ohne es zu bemerken und den Brief lautlos zurück in seine Ledertasche schob.

 

 

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